S. 7 - 10
"Der Poolnudel-Rudi ist ein Sadist!"
Unter theatralischem Stöhnen hievt Gabi sich auf den Barhocker neben mir. Aufgrund ihres untersetzten Körperbaus gelingt
es ihr auch unter normalen Umständen nur selten, einen Barhocker mit Grazie zu erklimmen. Ihre Stunde mit dem Poolnudel-Rudi
hat ihr offenbar auch noch den letzten Rest an Würde geraubt. Sie erinnert mich an ein Känguru-Baby, das versucht, in den
mütterlichen Beutel zu klettern, wie sie erst die Sitzfläche umklammert, einen Fuß an der Querstrebe zwischen den Stuhlbeinen
abstützt, sich gleichzeitig an der Thekenplatte hochzieht und ihren Hintern schließlich auf dem Hocker einparkt. Ermattet lässt
sie ihren in ein schimmerndes Paillettenoberteil verpackten Busen auf den Tresen sinken.
"Einen Bärwurz, bitte. Und einen Aperol Spritz. Viel Aperol, wenig Spritz!", stöhnt sie in Richtung des Barkeepers
Jonathan. "Der Bärwurz ist gegen die Schmerzen", erklärt sie mir, als sie meine hochgezogenen Augenbrauen sieht.
"Das ist eine Heilpflanze, wusstest du das? Geheimtipp vom Rudi."
Jonathan ist schätzungsweise Mitte zwanzig, groß, dunkelhaarig und ein astreines Schnittchen. Wäre ich dreißig Jahre jünger,
könnte ich wohl nicht umhin, mich einzureihen in die Schar der jungen Mädchen, die am anderen Ende der Theke ihre zierlichen
Hinterteile mit gekonntem Hüftschwung auf den Barhockern platziert haben und nun entweder überdreht gackern oder scheinbar
gelangweilt goldene Locken um ihre Finger wickeln, während sie den gut gebauten Burschen mit dem Cocktail-Shaker mit Blicken
förmlich ausziehen.
Jonathan schenkt Gabi ein verständnisvolles Tom-Cruise-Lächeln. "Kommt sofort!", verkündet er und holt die Flasche
mit dem grellorange schimmernden Inhalt aus dem Barschrank. Ich meine, entzücktes Seufzen aus der Mädelsecke zu hören.
"Na, war es denn so schlimm?" Ich tätschele die Hand meiner Freundin, die entkräftet auf ihrem Stühlchen hockt.
"Sollen wir es uns heute vielleicht lieber drüben auf den Sofas gemütlich machen?" Ich nicke mit dem Kopf ans andere
Ende der Bar, wo einige gemütlich aussehende Lounge-Sofas in einer Kaminecke gruppiert sind.
"Danke, Doro, aber jetzt sitze ich ja ganz gut", winkt Gabi ab und lächelt Jonathan an, der ein bauchiges Glas mit
Strohhalm und ein Stamperl mit dunkler Flüssigkeit vor ihren immer noch glitzernd auf der Tischplatte drapierten Busen stellt.
Nachdem sie den Schnaps mit einem gekonnten Knick aus dem Handgelenk in einem Zug gekippt hat, saugt sie gierig an dem Strohhalm.
"Boah, das hab ich jetzt gebraucht. Ich merke schon ganz deutlich, wie die Muskeln sich entspannen."
Ich nehme auch einen Schluck von meinem Caipirinha. "Es ist ja nicht so, dass man dich nicht gewarnt hätte", grinse ich.
"Der Poolnudel-Rudi ist berüchtigt, das wusstest du vorher."
"Jaja", nuschelt Gabi in ihren Strohhalm. Der Pegel in ihrem Glas ist in kurzer Zeit erstaunlich tief gesunken.
Rudi Zirngibl, so sein bürgerlicher Name, hat sich in jungen Jahren einmal für die Teilnahme am Ironman auf Hawaii qualifiziert.
Das geht aus mehreren gerahmten Zeitungsartikeln hervor, die im Umkleidebereich des Hallenbades zu bestaunen sind. Zudem wird der
Rudi nicht müde, den Hotelgästen drastisch und wortreich von seinen Kämpfen, von Schweiß und Tränen, der schier unbezwingbaren
Erschöpfung und schließlich dem triumphalen Überqueren des Zielpunktes auf einem passablen Rang 57 zu erzählen. Der Rudi hat einen
blank rasierten Schädel, Oberschenkel aus Beton und Bauchmuskeln, wie man sie sonst nur aus der Herrenunterwäsche-Werbung kennt.
Vermutlich ist der ansprechende Anblick, den der Rudi in seinen körpernahen Badeshorts am Beckenrand bietet, einer der Gründe für
die Beliebtheit, der sich die von ihm angebotenen Aquafitness-Kurse hier im Hotel erfreuen. Sie sind immer ausgebucht, obwohl er
keinen Hehl daraus macht, dass bei ihm nicht gemütlich gepaddelt oder ein bisschen mit Poolnudeln geschäkert wird. Sein
Aquagym-Extreme-Power-Pack heißt nicht umsonst so. Hier wird im Wasser gejoggt und gehüpft, bis das Bademützchen qualmt, und wenn
man bei den Muskelkräftigungsübungen nach der achtzigsten Wiederholung das Gefühl hat, die blöde Poolnudel wiege mindestens eine
Tonne, dann wird der Rudi erst richtig warm. So ein Ironman a. D. hat einfach eine andere Schmerzgrenze als eine Meute Weiber, die
normalerweise niemals auf die Idee kämen, Hampelmänner im Swimmingpool zu machen – oder irgendeinen anderen Sport, ob im Wasser
oder an Land. Aber für die Möglichkeit, fünfundvierzig Minuten lang ungeniert auf ein derart definiertes Sixpack gucken zu dürfen −
in echt, nicht auf einem Plakat oder in einer Hochglanz-Zeitschrift – nimmt Frau schon mal ein wenig Muskelkater in Kauf. So zumindest
die Argumentation von Gabi, als sie sich in den Kurs einschrieb. Ich ließ sie gewähren. Gabi ist seit dreiundzwanzig Jahren mit Uwe
verheiratet. Uwe hat viele wunderbare Eigenschaften, aber ein Sixpack gehört nicht dazu. Gabis Mann ist eher der knuffige Typ, dem man
beim Besuch im Hallenbad von körperbetonter Bademode abraten und weite Boxershorts ans Herz legen würde, mit elastischem Bund und viel
Bauchfreiheit. Aber das ist nur eine hypothetische Aussage, denn das Ehepaar Sosnovski besucht meines Wissens niemals irgendwelche Bäder.
Ich persönlich kann so einem Waschbrettbauch nichts abgewinnen. Der Anblick von all diesen Buckeln auf der Bauchdecke irritiert
mich eher, als dass er mich erfreut. Und praktisch betrachtet muss so ein Kerl doch furchtbar anstrengend sein. Das geht schon bei
der Ernährung los. Um die Fettlosigkeit der Bauchbuckelstrecke sicherzustellen, dürfen vermutlich weder Pizza noch Pasta noch Pommes
auf den Tisch. Gummibärchen und schokolierte Rosinen müsste man vermutlich auf dem Klo hinter der WC-Ente verstecken und beim Bieseln
heimlich naschen, um die Gefühle des Athleten nicht zu verletzen. Außerdem stelle ich es mir schrecklich ungemütlich vor, mit so
einem Berg aus stahlharter Muskelmasse ins Bett zu gehen. Das kann doch niemals kuschelig sein! Zum Anschmiegen ist ein nachgiebiges
Waschbärbäuchlein einfach besser geeignet als so eine brettharte Buckelpiste. Aber das ist natürlich nur reine Spekulation. Nachdem
ich in meinem Leben niemals praktische Erfahrungen mit durchtrainierten Unterwäsche-Models sammeln konnte, kann ich dies alles nur
vermuten. Mein Michi hatte einen Bauch, auf den man seinen Kopf wunderbar betten konnte. Nicht wabbelig, aber nachgiebig. Der perfekte
Kuschelbauch. Energisch schiebe ich diesen Gedanken zur Seite.
"Hat es sich denn wenigstens gelohnt?", will ich nun von Gabi wissen.
Diese richtet sich auf dem Barhocker ein wenig auf, streicht sich eine imaginäre Strähne ihrer grauen Pudellocken aus dem Gesicht
und verkündet würdevoll: "Durchaus."
S. 25 - 27
Schneewittchen
"Papiii!" Toni taucht neben ihrem Papa auf und umschlingt seine Hüfte mit den Armen. "Erkennst du sie? Erkennst du sie?
Ist es nicht der Wahnsinn, dass sie hier ist? Ich bin so aufgeregt!"
Tonis Papa guckt etwas ratlos. "Spätzchen, ja ... ich ... äh ..." Es ist ihm offenbar unfassbar peinlich, eine derart
berühmte Persönlichkeit wie mich nicht zu erkennen.
"Papiiii!" Tonis Zöpfe zittern vor Aufregung. Sie nimmt meine Hand und verkündet feierlich: "Papi, das ist
Schneewittchen. Ich habe sie sofort erkannt, an dem Zopf und dem käsigen Gesicht. Schau!" Sie deutet auf meinen Kopf. Unwillkürlich
umfasse ich den dicken Zopf, mit dem ich mein langes schwarzes Haar zusammengefasst habe. Das Kind hält mich für eine Märchenprinzessin.
Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen. Immerhin hätte sie auch sagen können: "Das ist Ursula, die Meerhexe."
"Äh, weißt du ..." Wie reagiert man in so einer Situation pädagogisch wertvoll? Das Kind ist außer sich vor Freude über seine
Entdeckung. Es hüpft von einem Bein aufs andere und blickt erwartungsvoll zwischen seinem Papa und mir hin und her. Darf ich dem Mädchen
sagen, dass ich zwar dunkelhaarig und von eher blasser Hautfarbe sein mag, jedoch keine Bekanntschaft mit Zwergen pflege? Würde die
Enttäuschung die zarte Kinderseele schädigen, sodass es später das Trauma in einem bequemen Ledersessel aufarbeiten muss, während ein
älterer Herr mit Stirnglatze sich Notizen macht? Andererseits, wo kommen wir denn hin, wenn man einem Kind alles erzählt, was es hören
will, nur weil es einen mit großen bernsteinfarbenen Augen – übrigens exakt die gleiche Farbe wie beim Vater – anstrahlt? Echt jetzt!
"Also, ich ... weißt du ... da hast du mich aber jetzt erwischt. Erzähl es bitte nicht weiter, okay? Wenn ich nicht daheim bin,
in ... also im Wald ... dann nenne ich mich Doro. Magst du mich auch so nennen?"
"Doro", flüstert Toni sichtlich ergriffen. "Ja. Ja, das mach ich."
"Spätzchen, schau mal, heute gibt es Muffins mit Schokostückchen. Hol dir doch rasch einen, ehe sie weg sind." Tonis Papa
deutet mit dem Rühreiteller in Richtung der Süßspeisenecke. Er hat meine Überforderung offenbar bemerkt.
"Oh! Ja, mach ich. Soll ich euch welche mitbringen?"
"Nein, danke", winke ich ab. Möglicherweise werde ich mir später auch noch einen schnappen. Aber ich bin erst beim deftigen
Gang. Vor dem Muffin kommen noch die Wurst- und Käseplatte, das gebratene Gemüse, Spiegelei mit Speck, und die verschiedenen Marmeladen
muss ich auch probieren. Wenn man es recht bedenkt, ist es erstaunlich, dass der Metallic-Rock bis gestern noch gepasst hat.
"Bitte entschuldigen Sie. Meine Tochter ist gerade in einer schlimmen Märchenphase." Tonis Papa lächelt schief und zuckt mit
den Schultern. "Ich bin übrigens Cornelius Jablonski."
Da er immer noch den Rühreiteller und die Müslischüssel jongliert, verzichte ich darauf, ihm die Hand zu reichen, und nicke ihm nur freundlich zu.
"Dorothea Schweighofer. Das -hofer ohne ö. Daher weder verwandt, verschwägert noch verheiratet." Ich habe mir angewöhnt, der
unweigerlichen Frage nach einer Verbindung mit dem Schauspieler zuvorzukommen. Die fehlenden Punkte über dem O halten viele für vernachlässigbar.
"Wie?" Cornelius Jablonski schaut mich ratlos an.
Das Gesicht des Mannes müsste man fotografieren. Wären wir in einem Comic, würde ihm eine Parade lustiger Fragezeichen um die Stirn tanzen.
Es ist offensichtlich, dass er keine Ahnung hat, wovon ich rede. In welchem Erdloch hat dieser Mann in den letzten zwanzig Jahren gehaust?
"Nun, spielt keine Rolle. Ich halte Sie nicht länger auf, sonst wird Ihr Rührei kalt."